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Alle inklusive: Was braucht Familie?
Selbstverständlich dazugehören – was heisst das in meiner Familie?
Der Tagungsbericht 2012
von Tamara Schmidt vom Hofe
Alle Inklusive? Was braucht eine Familie, damit alle Mitglieder selbstverständlich dazugehören können?
Für diese Frage interessierten sich 238 Teilnehmer der diesjährigen Tagung des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder, die traditionell am verlängerten Himmelfahrtswochenende stattfand – vor allem aber die 140 Erwachsenen. Es waren so viele Teilnehmer wie nie zuvor. Schon kurz nachdem die Einladung zur Tagung veröffentlicht wurde, waren die Zimmer im Kolpinghaus Duderstadt ausgebucht. Wie schon in den vergangenen Jahren kam auch diesmal wieder eine ausgewogene Mischung aus hörenden und gehörlosen Eltern mit ihren Kindern. Und sogar verstärkt Familien mit CI-versorgten Kindern fanden den Weg zum Bundeselternverband. Auffällig – und das bei so vielen „Neulingen“ – war die gute Kommunikation untereinander.
Das ist genau das richtige Stichwort und auch die Antwort auf die Frage, was eine Familie braucht, damit jeder sich zugehörig fühlt. Was so selbstverständlich scheint, ist es im Alltag häufig nicht. Dies wurde in den diversen Vorträgen, Workshops und Gesprächen immer wieder deutlich. Egal, ob es um die klassische Familie geht oder z. B. um die „große Familie“ der Tauben: Immer, wenn es um Kommunikation geht, kann es zu Missverständnissen kommen. Erst recht, wenn unterschiedliche Sprachen benutzt werden. Doch wie kann das verhindert werden?
Kommunikation – immer und über alles
Durch Offenheit, Sensibilität und immer neue Wege, sagt die Professorin für Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Prof. Dr. Claudia Becker. Sie hielt zur Eröffnung der Tagung einen interessanten Vortrag über die Herausforderungen und Gestaltung des Familienalltags. Grundsätzlich, sagt sie, konnten Studien belegen, dass in Familien mit einem behinderten Kind alle profitieren können. Oft werde der Zusammenhalt gestärkt, neue Kommunikationsformen würden ausprobiert. Gleichzeitig wies sie auf eine ganze Reihe von Herausforderungen in der alltäglichen Kommunikation mit dem beeinträchtigen Kind für Geschwistern und Eltern hin. Dazu gab sie praktische Tipps, wie diese Herausforderungen gemeistert werden können:
Das Problem: Die Informationen, die ein taubes Kind bekommt, bleiben mitunter oberflächlich und auf das Notwendigste beschränkt. Zum Beispiel wird bei gemeinsamen Mahlzeiten nicht jedes Thema gebärdet.
Mögliche Lösung: Bezugspersonen dürfen nicht die Entscheidung treffen, welche Themen wichtig sind und deshalb gebärdet werden. Alle Themen sind für das taube Kind wichtig. Es kann selber filtern.
Das Problem: Oft wissen Eltern oder Geschwister nicht, in welchen Situationen ein taubes Kind gut oder weniger gut versteht.
Mögliche Lösung: Die Familie bespricht im Vorfeld Kommunikations-strategien für unterschiedliche Situationen wie Autofahrten, gemeinsame Mahlzeiten oder Familienfeiern. Das jeweilige Bedürfnis des tauben Kindes wird besser verstanden und das Kind selbst lernt, seine Bedürfnisse auszudrücken. Handlungen, z. B. ein Rückzug, werden besser akzeptiert.
Das Problem: Die Hörschädigung wird innerhalb der Familie, oft aus Rücksicht auf das taube Kind, tabuisiert. Das Kind macht sich aber dennoch Gedankten und zieht mitunter falsche Schlüsse.
Mögliche Lösung: Offen alle Themen und Tatsachen besprechen. Nur so kann das Kind individuelle Stärken und Selbstbewusstsein entwickeln.
Das Problem: Geschwister stehen oft zurück und fühlen sich nicht gleichbehandelt, vor allem wenn schwierige Entscheidungen oder Termine anstehen. Auch werden sie mitunter nicht so schnell gelobt wie das beeinträchtigte Kind, weil sie Dinge selbstverständlich lernen.
Mögliche Lösung: Eltern müssen und können sich ihren Kindern nicht immer gleich zuwenden. Aber die Zuwendung sollte gerecht sein. Regelmäßige und bewusste Unternehmungen mit dem nicht beeinträchtigten Kind schaffen Nähe und einen Ausgleich.
Das Problem: Väter fühlen sich mitunter von der Kommunikation ausgeschlossen, Mütter hingegen in der Rolle der Vermittlerin zwischen allen Familienmitgliedern überfordert.
Mögliche Lösung: Auch hier ist es die Offenheit im Gespräch: „Wie ist es für Dich mit der Kommunikation? Was können wir verbessern?“
Das Fazit von Claudia Becker: Jede Familie kann mit der Zeit durch immer neues Ausprobieren und Besprechen ihren Alltag so gestalten, dass sich alle selbstverständlich zugehörig fühlen.
Den Einzelnen in der Familie stärken
Die besondere Situation einzelner Familienmit-glieder war auch Inhalt verschiedener Workshops. So hatte sich Vorstandsmitglied Yvonne Opitz „Die besondere psychologische Situation von Minderheiten“ zum Thema gemacht. Sie selbst ist schwerhörig, Mutter und Lehrerin an einer Förderschule für hörgeschädigte Kinder in Bremen. Die Frage, warum es Menschen gibt, die ziemlich gut mit ihrer Besonderheit klarkommen und andere nicht, veranlasste sie zu diesem interessanten Thema. Ganz allgemein ging es darum aufzuzeigen, warum sich manche Kinder besondere Verhaltensweisen aneignen, z. B. versuchen normal zu sein oder ihre Behinderung verstecken wollen, möglicherweise sogar ablehnend oder aggressiv sind. „Auch wollte ich zeigen, dass die Eltern ihr Kind in ihrem Selbstwertgefühl unterstützen können, aber „nicht Schuld“ sind, wenn es ‚draußen‘ nicht so läuft. Es ist hilfreich, wenn man seinem Kind signalisiert‚ es ist gut, so wie du bist – ich will dich gar nicht anders – ich mag dich genau so!“, sagt Yvonne Opitz.
Die Eltern waren sich einig, dass das Kind nicht nur auf seine Hörschädigung reduziert werden darf, sondern auch viele andere Fähigkeiten hat, die andere Menschen z. B. nicht haben. Wer kann denn die Gebärdensprache? Auch nicht jeder. Mein Kind kann ganz toll malen, kann auch nicht jeder. Nur weil die Gesellschaft noch dieses Defizitdenken hat und nur darauf schaut, was jemand nicht kann, muss man ja selber nicht mitmachen! Vielen Teilnehmern fiel ein Stein vom Herzen als sie während des Vortrages lernten, dass sie für ihr besonderes Kind keine Identität suchen müssen. „Es gibt nicht DIE Gehörlosenidentität, oder DIE Hörendenidentität“, so Yvonne Opitz. „Einfacher ist es zu sagen: Das ist Peter, er spielt gerne Tennis, hört schlecht, geht gern zur Schule und liest nicht gerne. Welche Identität hat er? Es ist Peter!!!!“ Von der Situationskomik des Vortrages beflügelt erkannte ein Teilnehmer, dass die „Besonderen“ vielleicht sogar ein glücklicheres Leben führen könnten als die „Normalen“, wenn sie nicht immer so viel auf die Gesellschaft geben würden. Eine andere Teilnehmerin empfand es als befreiend, dass die Eingangsfrage des Workshops, nämlich „Was ist denn normal?“, gar nicht richtig beantwortet werden konnte.
Die Diplom-Sozialwissenschaftlerin Marlies Winkelheide bot einen Workshop mit dem Thema an: „Ich bin nicht du, du bist nicht ich. Geschwister melden sich zu Wort“. Darin erzählte sie viele kleine Geschichten aus ihrer langjährigen Arbeit mit Geschwistern beeinträchtigter Kinder, die mit ihren Bedürfnissen in ihren Seminaren im Mittelpunkt stehen und für den Alltag gestärkt werden. Was Eltern oftmals unterschätzen, so Winkelheide, sei die Klarheit, mit der sich Geschwisterkinder ihre Gedanken machen – über ihre eigene Rolle in der Familie, ihre Aufgaben und das Verantwortungsgefühl für das beeinträchtigte Geschwisterkind. In der Gruppe unter Kindern mit ähnlichen Erfahrungen können sie sich offen austauschen, wo sie andernorts nicht verstanden werden. So gibt es Kinder, die sich schuldig fühlen, weil sie Dinge besser bewältigen können als ihr beeinträchtigtes Geschwisterchen. Andere wünschen sich eine Behinderung, weil sie sehen, wie viel Aufmerksamkeit sie dadurch bekommen. Wichtig ist, dass all diese Gedanken indirekt mit Wünschen an die Eltern verbunden sind. Diese zu erkennen und zu vermitteln lernen Kinder in Marliese Winkelheides Seminaren und durch Gespräche mit ihr. Wichtig dabei ist ihr das Zuhören und dass die Kinder selber Lösungen erarbeiten. Sie ermutigte die anwesenden Eltern durch ein kleines Geschenk – eine besondere Murmel mit drei Augen – einmal nur dem nicht behinderten Kind eine Aufmerksamkeit mitzubringen.
Die Familie der Tauben
Zweimal wurde der Fokus direkt auf die Familien mit tauben Eltern gerichtet: Im Rahmen des Workshops von Lisa Eidens und Heidi Hansen. „Was können Kinder von ihren gehörlosen Eltern für die Schule und fürs Leben lernen?“ Und im Rahmen des Vortrages von Simon Kollien, Diplom-Psychologe und Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Gebärdensprache an der Universität Hamburg: „Taube bzw. schwerhörige Eltern – ist bei uns bereits alles inklusiv?“ Während im Workshop von Lisa Eidens und Heidi Hansen die Stärken und Ressourcen tauber Eltern hervorhoben wurden und die Referentinnen die Eltern so zu motivieren versuchten, ging Simon Kollien auch auf besondere Schwierigkeiten tauber Eltern ein. Hier ging es weniger um die Kommunikation innerhalb der Familie. Er berichtete über die Schwierigkeiten innerhalb der „großen Familie tauber Eltern“. Sie seien „Mitglied einer Minderheitskultur“ und durch die Meinungen und Handlungsweisen der „Mehrheitskultur“ hörender Eltern immer wieder beeinflusst. Zu viel Einmischung, ein erheblicher Vertrauensverlust, zu wenige Informationen und andere Schwierigkeiten würden taube Eltern mehr belasten als hörende. Kollien verwies auf positive Erfahrungen mit Elternseminaren zu gezielten Themen in seiner Heimatstadt Hamburg. Dort hätten taube Eltern die Möglichkeit, wieder näher zusammenzurücken und sich zu besprechen. Um danach gestärkt für den Alltag mit ihrer Familie zu sein. Eine gemeinsame Sprache löst auch nicht alle Probleme!
Altbewährte Themen und ein Neues
Im Rahmen des mittlerweile bewährten Open Space, in dem Eltern selber für sie wichtige Themen einbringen konnten, ging es auch wieder um Bildungsthemen. Etwa darum, wie gehörlose Kinder eine verbesserte Schriftsprachkompetenz erwerben können. Die Schulleiter des Paul-Schneider-Gymnasiums in Rheinland-Pfalz, die bereits im letzten Jahr ihr Konzept für ein Gymnasium mit angeschlossenem Internat für taube Kinder vorgestellt hatten, berichteten über den neuesten Stand des Projektes. Auch wenn die Finanzierung noch nicht sichergestellt ist besteht noch die Hoffnung, bereits im nächsten Schuljahr 2013/2014 die ersten Schüler aufnehmen zu können. Eine Einzelintegration ist bereits jetzt möglich, wenn sich die Eltern um die Kostenübernahme kümmern. Die Diskussion rankte sich aber auch um die Frage, wie die Gehörlosenkultur außerhalb der Förderzentren für Hörgeschädigte weitergegeben wird. Klar wurde, dass hier neue Wege zu suchen sind.
Immer wieder brandete auch die Diskussion auf um die Frage: Inklusion in der Regelschule oder Erhalt der Förderzentren. Die Erfahrungen der Eltern mit den einzelnen Einrichtungen sind so unterschiedlich und deshalb auch die Entscheidungen, dass diese Debatten wohl immer wieder auf der Tagesordnung stehen werden.
Ganz neu war ein eigener Programmpunkt zum Thema Cochlea-Implantat. DerWorkshop zur Implantation von Kindern fand viele Zuschauer und Zuhörer. Prof. Dr. Annette Leonhardt und ihr Team von der Universität München berichteten über Studienergebnisse und über ihre Erfahrungen mit implantierten Kindern. Die Offenheit gegenüber einer bilingualen Erziehung kam gut an unter den Teilnehmern, auch wenn das Bekenntnis vermisst wurde, dass Kinder, die von vornherein Gebärdensprache benutzen, hinterher besser in die Lautsprache kämen. Ein von manchen Eltern befürchteter Werbeauftritt wurde es glücklicherweise nicht. So konnte ein Elternpaar, das derzeit über eine Implantation ihres gehörlosen Sohnes nachdenkt, nicht durch die Vorträge überzeugt werden, den Schritt wirklich zu gehen. Ein Vater aber stellte am Ende dennoch ernüchternd fest: „Wer sich heute noch gegen ein CI entscheidet, der muss wirklich Mut haben.“
Insgesamt wurde das aufgelockerte Programm, das erstmals auch einen „Marktplatz der Informationen“ über verschiedene Themen wie Logopädie mit Gebärdensprache, die Früh-förderung der „Quietschehände“, Berufsbildung, Mediation und Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich Inklusion anbot, von allen Teilnehmern sehr positiv aufgenommen. Katja Belz, die Präsidentin des Bundes-elternverbandes, freut sich über die vielen positiven Rückmeldungen:
„Zum ersten Mal nach einer Tagung bekomme ich schon jetzt Mails mit Themenanregungen, Kontaktadressen und Wünschen. In fast allen Mails finden sich noch dankende und lobende Worte für uns und unser Team.“ Das motiviert natürlich für die weitere Arbeit. Denn nach der Tagung ist für den Vorstand auch schon wieder vor der Tagung. Und für das 50jährige Verbandsjubiläum im nächsten Jahr gibt es alle Hände voll zu tun.
Tamara Schmidt vom Hofe, 14. Juni 2012